Systemische Therapie

Die Systemische Therapie umfaßt die Systemische Paar- und Familientherapie, die Systemische
Organisationsentwicklung und das Systemisches Coaching. Sie wird eine psychotherapeutische Fachrichtung beschrieben, die systemische Zusammenhänge und interpersonelle Beziehungen in einer Gruppe als Grundlage für die Diagnose und Therapie von seelischen Beschwerden und interpersonellen Konflikten betrachtet.
In Deutschland ist diese Therapieform trotz ihrer Wirksamkeit bisher nicht für die Ausbildung zum Psychotherapeuten mit staatlicher Approbation nach dem Psychotherapeutengesetz zugelassen und in der ambulanten Behandlung auch bislang nicht über die gesetzlichen Krankenkassen abzurechnen.
Die Krankenkassen in Österreich und der Schweiz hingegen erkennen sie an.

Inhaltsverzeichnis
1. Geschichte der Systemischen Therapie
2. Theorieentwicklung
3. Therapieansatz
4. Vorgehensweise
5. Forschung
6. Einzelnachweise
7. Literatur
8. Weblinks

1. Geschichte der Systemischen Therapie
Der Biologe Ludwig von Bertalanffy begründete die Allgemeinen Systemtheorie.
Er suchte ein allgemeingültig auf die verschiedensten Systeme anzuwendendes Modell
und entwickelte hierzu eine Metatheorie.
Seine Darstellung entstand aus Beobachtungen gemeinsamer Gesetzmäßigkeiten und deren prinzipieller Grundlagen.
Ein System ist hierbei eine Einheit aus Elementen und damit mehr als deren bloße Summe.
Die Elemente haben untereinander und zu anderen Systemen Beziehungen. Solche
Wechselwirkungen können selbstverständlich über die Eigenschaften der Elemente
hinausgehendes bewirken.

Familientherapeutisches Denken entwickelte sich in den 80er Jahren des 20 Jahrhunderts im Kontext der neuen Wissenszweige der Kybernetik und der Systemtheorie.
Im Laufe der Zeit haben sich methodisches Vorgehen und zugrundeliegende Prämissen differenziert, so dass sich heute mehrere Schulen voneinander abgrenzen, so die strukturelle und strategische Familientherapie, aber auch Mehrgenerationenfamilientherapie, die Lösungszentrierte Systemische Therapie und die weniger therapeutisch als organisatorisch ausgerichteten Modelle der Systemischen Organisationsentwicklung.
Aus den systemischen Therapieverfahren (z.B. durch die amerikanische Therapeutin Virginia Satir) hat sich die Methodik der Familien-Skulptur (Familienaufstellung) oder Familienrekonstruktion entwickelt, die es erlaubt, biographische Muster und Verhaltensweisen zu identifizieren und bei Bedarf zu verändern.
Im deutschsprachigen Raum ist die Methode der Problemaufstellung nach v. Kiebeck verbreitet. Daneben ist noch die Variante "Familienstellen" des katholischen Missionspriesters Bert Hellinger bekannt geworden und ist aufgrund seiner reaktionären Wertevermittlung und des unverantwortlichen Umgang mit Kranken besonders umstritten.
Einen wesentlichen theoriegeschichtlichen aber auch praktischen Meilenstein in der (systemischen) Familientherapie stellt das Mailänder Modell dar.
Hervorzuheben ist die Gruppe um Mara Selvini Palazzoli. Sie schaffte es mit ihrem Ansatz in kurzer Zeit Erfolge bei schizophrenen Familienmitgliedern und bei Ernährungsstörungen zu erzielen.
Bis heute prägend ist eine spezielle die Methodik, in der Therapeut und Klient von (mindestens) einem Co-Therapeuten räumlich getrennt (Einwegscheibe oder Videoübertragung) beobachtet) werden.
Das Therapeutenteam bespricht eine Therapiesitzung vor (Hypothesendiskussion), das Interview führt der eigentliche Therapeut und gegebenenfalls halten Therapeut und Co-Therapeut(en) während kurzer Unterbrechungen Rücksprache. Nach Ende des Interviews berät sich das
Therapeutenteam um eine optimale Abschlussintervention (z.B. eine Hausaufgabe oder eine Symptomdeutung) zu finden, die dem (den) Klienten direkt im Anschluss mitgeteilt wird.
Sinn dieser Intervention ist, das System (aus Familienmitgliedern und oder wichtigen Anderen) in ihren Interaktionsmustern zu verändern und die beklagte Symptomatik zu verändern.
Vom norwegischen Sozialpsychiater Tom Anderson wurde dieses therapeutische Setting um das so genannte Reflecting Team erweitert. Dabei tauschen (in der Regel) am Ende einer Therapiesitzung Therapeut und Klient(en) mit dem Co-Therapeuten-Team die Plätze.
Therapeut und Klient(en) beobachten nun, wie das Co-Therapeuten-Team das bisherige Geschehen aus ihrer Sicht in einer hilfreichen und unterstützenden Art und Weise reflektiert.
Der hohe Aufwand an mehreren Therapeuten bringt eine höhere Vielfalt der Perspektiven, vermindert Therapiefehler und Einseitigkeiten und wird mit hoher Effektivität belohnt (nur sehr wenige Sitzungen sind typischerweise notwendig).
Progressive Alleinarbeiter unter den Therapeuten nutzen heute Videoaufzeichnungen, um ihre Arbeit selbst oder mit einer Supervisionsgruppe zu besprechen.

Die Grundannahmen aus den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wie die Double-Bind-Hypothese (Doppelbindung in Familien, vgl. Gregory Bateson und Paul Watzlawik) oder die
anfängliche Gleichsetzung von Familie und System gilt systemischen Therapeuten
heute als überholt.
Die Theoriebildung wurde stark von der biologischen Systemtheorie der Chilenen Maturana und Varela beeinflusst, die dann von Niklas Luhmanns soziologischer Systemtheorie erweitert und ergänzt wurde.
Die lösungsorientierte Therapie (lösungsorientierter Ansatz) betrachtet hierbei allerdings nicht die Familie als System (mit den Familienmitgliedern als Elementen), sondern modelliert das gesamte "Therapiegeschehen" als Prozess der Entwicklung.
Da die ehemals "familientherapeutischen" Zugangsweisen zunehmend auch auf andere Systeme wie Wirtschaftsunternehmen oder politische Systeme angewandt werden können, hat der hieraus für den Bereich der "lernenden Organisation" entwickelte generalisierte Ansatz außerdem auch Elemente der Betriebswirtschaftslehre, insb. der Aufbauorganisation und Ablauforganisation sowie
des Projektmanagements, integriert.
Da hierbei jedoch keine individuellen Krankheitsmerkmale vorliegen, wird im allgemeinen auch nicht von Therapie, sondern eher von Unternehmensberatung und Coaching bzw. Supervision gesprochen, wobei die Prinzipien und Vorgehensweisen letztlich die gleichen bleiben, Erkenntnisprozesse jedoch i. d. R. im Team öffentlich gemacht werden.
Ein Umstand, der diese Art der systemischen Beratung klar vom therapeutischen Ansatz trennt.
Siehe auch: Systemaufstellung (vgl.: Anwendungsspektrum, Vorläufer und Einflüsse)

2. Theorieentwicklung
Die Grundlagen der Systemischen Therapie basieren auf den Werken von Gregory Bateson (resp. des Double Bind/Doppelbindung Modells) und sind des Weiteren geprägt von der Philosophie des radikalen Konstruktivismus (Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Ernst von Glasersfeld). Insofern teilt es wesentliche theoretische Grundlagen mit dem NLP.
Wichtige Ansätze sind der von Steve de Shazer als Begründer des Lösungszentierten Ansatzes, und der von Kurt Ludewig, der vor allem die Grundlagen klinischer Theorie und Praxis in der Systemischen Therapie und ihre weiteren theoretischen Grundlagen gelegt hat, sowie Paul Watzlawick.
Die gehäufte Nennung des Bezuges zu Niklas Luhmann und seinem Grundlagenwerk "Soziale Systeme" ist jedoch mehr symbolischer Natur und findet im Detail der Therapiediskussion kaum Berücksichtigung.
Im Bereich von Beratung und Therapie gibt es ein großes Angebot von hilfreichen Theorien und Verfahren.
Viele davon sind wissenschaftlich gut abgesichert und ohne Zweifel sehr hilfreich. Diese Theorien bzw. Verfahren treten auf dem "Therapie- und Beratungsmarkt" in Konkurrenz. Dieser oft konstruktive Wettstreit hat neben einer weiteren Profilierung der Verfahren auch zu einer Vermischung derselbigen geführt.
Therapeutische Ansätze, wie sie beispielsweise von der systemischen Familientherapie, der Transaktionsanalyse, der wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie, dem NLP (siehe dort) oder vom Psychodrama vorgestellt werden, ergänzen sich ausgezeichnet.
Sie erweitern - sofern der Berater dies bejaht und zulässt - dessen methodische Kompetenz und kommen dem Klienten zugute.
Auch die Systemische Beratung ist im Wandel.
In der Praxis wird der systemische Ansatz daher oft von Beratern bzw. Therapeuten angeboten, die mehr als eine Zusatzqualifikation oder Fortbildung im psychologischen bzw. betriebswirtschaftlichen oder sozialarbeiterischen Kontext mitbringen.
Die Entwicklung geht hin zum "Generalisten", der, aus der praktischen Erfahrung schöpfend, auf eine Vielzahl von Methoden aus wiederum mehreren Theorien zurückgreifen kann.

3. Therapieansatz
Der klassisch aus der Systemischen Familientherapie entwickelte Ansatz sieht das familiäre System bzw. das organisatorische System eines Unternehmens als Ressource, auf dem aufbauend das einzelne Mitglied sowohl seine Fähigkeiten und Stärken entwickeln als auch Verhaltensstörungen entwickeln kann. Zeigt ein Mitglied der Gruppe psychische oder Verhaltensauffälligkeiten, so wird der Betreffende als Symptomträger für das Gesamtsystem betrachtet. Dies kann sich beispielsweise in typischen privaten Konflikten mit dem Partner oder in immer wiederkehrenden Problemen mit Kunden oder Kollegen zeigen.
Systemische Therapie kann als Klinische Psychotherapie verstanden werden. Klinische Psychotherapie ist eine gesundheitsspezifische Fachpsychologie ("klinisch" bedeutet hier "behandelnd"). Ihr generelles Ziel ist die Einbeziehung zwischenmenschlicher Aspekte in die Therapie, Behandlung und Unterstützung von exkludierten (isolierten), gefährdeten, erkrankten und behinderten Menschen. Fokus ist die Person-in-ihrer-Welt (person-in-environment) im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Verständnisses von Gesundheit, Störung und sozialen Problemen.

4. Vorgehensweise
Die Elemente der Systemischen Beratung beziehen generell ganzheitliche Fragestellungen mit ein. Anliegen oder als schwierig und konflikthaft empfundene Situationen betrachtet der Therapeut auf verschiedenen Beziehungsebenen. Je nach Standort finden sie auf die scheinbar gleiche Frage
mehrere "richtige" Antworten. Das System definiert hier den Standort, das Element und seine Beziehungen zu anderen Elementen.
Systemische Beratung ermöglicht den Beteiligten:
 1. die Wahrnehmung neuer, bisher unbekannter Perspektiven
 2. Verständnis für die Haltung der übrigen Beteiligten
 3. die Analyse von Mustern in Kommunikations- und Interaktionsvorgängen
 4. angemessene Interventionen
 5. die ganzheitliche Hypothesenbildung

Diese Zielvorstellung steuert dann den eigentlichen, auf Veränderung und Ressourcenkräftigung gerichteten beraterischen Prozess.
Einzelne Bausteine dieser Pragmatik ergeben sich aus der Beschreibung der einzelnen Module:
 1. Arbeit mit analogen Gestaltungen und verbalen Visualisierungen
 2. Zirkuläre Fragen, die den Standpunkt Dritter wiedergeben
 3. Skalenfragen, zur Fokussierung von Unterschieden und Fortschritten
 4. positives Konnotieren, die wertschätzende Haltung gegenüber zirkulären Ursachen
 5. Dekonstruktion, d.h. kritisches Verhalten gegenüber Denkmustern
 6. Umdeutung (Reframing) von Verhaltenskontexten, um die Bewertung der Verhaltensweisen zu
     verändern
 7. Paradoxe Intervention, gegenläufige Ratschläge, die den Teilnehmer in Bewegung bringen
 8. Hausaufgabe für zwischen den Sitzungen, oft i.S. einer Paradoxen Intervention
 9. Metaphernarbeit, Parabeln und Geschichten als indirekte Aufforderung, doch selbst zu
     handeln
10. gezieltes provokatives Aussprechen möglicher Annahmen betroffener Kommunikationsteilnehmer
11. Ausnahmen zu erlebter Wahrnehmung beharrlich erfragen, nötigenfalls durch Paraphrasieren
12. Gestaltarbeit, die Übersetzung ausgedrückter Stimmungen mit Händen und dem Körper des Teilnehmers
13. hypothetische Verankerung positiver Entwicklungsszenarien mittels Konjunktion
14. Skulptur, Darstellen von Familienbeziehungen als Standbild im Raum
15. Genogramm, Soziogramm, die grafische Darstellung der sozialen Beziehungen im System.

5. Forschung
Eine wissenschaftliche Studie, die zwei Psychotherapieverbände (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF) und Systemische Gesellschaft (SG)) dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie im Sommer 2006 vorgelegt haben, belegt, dass die systemische Therapie/Familientherapie ein wirksames und kostengünstiges Psychotherapieverfahren mit sehr guten Langzeiteffekten ist.
Diese Forschungsstudie hat mehr als 80 RCT-Studien (randomisierte, kontrollierte Studien)
erfasst, die die Effektivität der systemischen Therapie/Familientherapie belegen. Die
Verbände wollen mit ihrer Expertise der Systemischen Therapie/Familientherapie zu
einer offiziellen Anerkennung in Deutschland verhelfen. Mit einer abschließenden
Antwort ist nicht vor Herbst 2007 zu rechnen.

6. Literatur
Kriz, Jürgen (1999).: Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und
Mediziner. Eine Einführung. Wien/ Stuttgart. Facultas/UTB, 3. Auflage, ISBN 3-
8252-2084-2
Mücke, Klaus (2003).: Probleme sind Lösungen. Systemische Beratung und
Psychotherapie - ein pragmatischer Ansatz. Lehr- und Lernbuch; 3. Auflage; ISBN
978-3-9806094-4-9
Arist v. Schlippe, Jochen Schweitzer: Lehrbuch der systemischen Therapie und
Beratung Vandenhoeck & Ruprecht; Auflage 9 (Juni 2003), ISBN 352545659X
Kirstin von Sydow, Stefan Beher, Rüdiger Retzlaff: Die Wirksamkeit der
Systemischen Therapie/Familientherapie Hogrefe-Verlag; Auflage: 1 (Oktober 2006),
ISBN 3801720373
Christiane und Alexander Sautter: Alltagswege zur Liebe. Familienstellen als
Erkenntnisprozess. Eine Einführung in die systemische Arbeit nach Virginia Satir.
Schwerpunkt: Systemaufstellung mit Familiensystemen (hat nichts mit Familienstellen
nach Hellinger zu tun) Ibera Verlag Wien, 2006 (überarbeitet), ISBN 3-85052-026-9

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